Lange versuchte ich, Aurelia das
Fahrradfahren beizubringen. Bis vor kurzem schlingerte sie mit ihrem kleinen rosa Rad mit Stützrädern gegen alle
Trägheitsgesetze um die Kurven,
so dass mein Herz immer einen Aussetzer machte. Als ich es nicht länger mitansehen
konnte, montierte ich an einem Tag im letzten Sommer die Stützräder ab und
wollte mit ihr üben, ohne Stützräder zu fahren. Aurelia setzte sich aufs Rad
und ich hielt sie fest, damit sie nicht umkippte. Nach einer Runde hatte sie keine
Lust mehr. Da wir nie viel Zeit haben, blieb es bei diesem einen Versuch. Dann fuhr
der Papa mit ihr auf einen grossen Parkplatz, aber sie wollte nicht ohne Stützräder
fahren. In den Sommerferien versuchten Oma und Opa ihr das Fahrradfahren
beizubringen, aber sie wollte einfach nicht. Irgendwann sagte sie, sie wolle gar kein Fahrradfahren lernen und Schwimmen im Übrigen auch nicht.

Dieses Jahr wurde Aurelia fünf. Ich
sah in der Nachbarschaft die Dreijährigen mit ihren Rädern fahren und fing
an, mir Vorwürfe zu machen: Aurelia könne kein Rad fahren, weil ich zu wenig
Zeit hatte, waren doch die Mütter der anderen Kinder zu Hause und nicht
berufstätig.
Aurelia fragte mich immer wieder , ob
ich ihre Stützräder wieder montieren könne, weil sie mit dem Rad zum
Kindergarten fahren wolle. Das wiederum wollte ich nicht und so wurde es wieder
nichts mit dem Fahrradfahren. Dann schlossen wir einen Kompromiss: Ich kaufte
ihr einen Roller und sie fuhr das ganze Frühjahr über damit zum Kindergarten. Dann
und wann fragte ich sie, ob wir am Wochenende Fahrradfahren wollten, sie wollte
nie. Und immer auch fehlte die Zeit.
Als die Omas jetzt da waren und im
Garten werkelten, holte Aurelia auf einmal ihr Fahrrad aus der Garage. Oma
fragte, ob sie Hilfe benötige. Nein, sie wolle ganz alleine Fahrradfahren. Und
dann übte sie den ganzen Nachmittag. Abends kam ich zu spät nach Hause, Aurelia
war schon im Bett, aber am nächsten Morgen wachte sie sehr früh auf und
erzählte mir froh, dass sie jetzt Fahrradfahren könne. Es hat mich so glücklich
gemacht, wie sie die erste grosse Hürde in ihrem Leben ganz alleine
gemeistert hatte. Und wie stolz sie darauf war!

Natürlich wollte Aurelia mir auch gleich zeigen, wie
toll sie Fahrradfahren konnte und jetzt hatte Mama Zeit. Das es früher Morgen war
und wir beide im Nachthemd war egal, es zählte der Moment und wir fuhren eine
Runde um den Block. Wer uns gesehen hatte, musste wohl denken, jetzt sind sie
vollkommen übergeschnappt, aber nun hatten Mama und Aurelia Zeit füreinander
und das zählte. Und ich habe gelernt, dass man nichts erzwingen soll.
Aurelia hat das Fahrradfahren gelernt, als sie es für richtig hielt und nicht,
als Mama oder die anderen es für richtig hielten. Und das es nicht wichtig ist,
wieviel Zeit man hat, sondern dass man im richtigen Moment Zeit füreinander hat.
In die nächste Woche strampeln Eure Aurelia und Jasmin!